Was ist Muße?

Kurze Antwort:

Muße ist das, was wir nicht haben, aber wonach wir uns alle sehnen. Zeit ohne Zwang.

Mehr als nur Freizeit von der Arbeit. Freie Zeit im vollen Umfang dieses Wortes: frei vom Anpassungsdruck, vom Konsumzwang, von Erwartungshaltungen, von Angstgefühlen und von unmittelbarer Verantwortung. Das ist viel Freiheit. So viel, dass man fragen kann, was sind wir dann noch, wenn wir nicht arbeiten, uns nicht anpassen, nicht konsumieren, keinen Erwartungen entsprechen, keine Angst mehr haben und gerade für nichts unmittelbar Verantwortung übernehmen müssen?

Gelangweilt? Vielleicht. Die Langeweile ist die Zeit, die lange weilt. Wie ein Tag am Meer. Man breitet sich mit vollen Picknickkörben vormittags am Strand aus, springt ins Wasser, lässt sich treiben, liegt in der Sonne. Die schattenspendende Zeitung über dem Kopf aufgeschlagen träumt man lesend vor sich hin. Die Zeit vergeht nicht wie im Flug. Sie verweilt. Es wird langweilig. Man geht an der Promenade spazieren, trinkt einen Cappuccino, kommt wieder zurück. Nimmt die Freundin in den Arm und streicht ihr den Sand von den Schultern: Ich liebe Dich. Wendet sich den Freunden zu: „Sagt mal, habt ihr das neulich auch mitbekommen? Was haltet ihr denn davon?“ Es wird Abend. Man zieht einen Pullover über. Öffnet eine Flasche Wein. Die vielen Sonnenstunden, das Salz auf der Haut, die Brandung am abenddämmernden Meer. Ein Hauch von Melancholie macht sich breit… verweilend geht die Gegenwart in Erinnerung über.

Muße ist Gelegenheit; freundlicher Zufall. Die Gelegenheit, die sich ergibt, am Rande des Geschehens. Versunken in einem Moment ohne Funktion.

Muße ist Aktivität. Wir sagen: endlich habe ich die Muße mich dieser Sache richtig zu widmen. Allein diese Redewendung weist schon daraufhin, dass Muße alles andere ist, als faul und träge einfach nur in den Tag hineinzuleben. Sie ist im Gegenteil mit solchen Handlungen verbunden, die sich umso produktiver, akribischer und kreativer gestalten, je weniger sie von Zwängen bestimmt werden. Der Arzt, der Muße hat, eignet sich den neuesten Forschungsstand auf seinem Gebiet an. Der Fußballtrainer, der Muße hat, schaut sich in anderen Sportarten nach Trainingsmethoden um, die sich auf sein Metier übertragen lassen. Der Unternehmer, der Muße hat, blickt über den Tellerrand des eigenen Geschäftsmodells hinaus, um mal zu sehen, was sich in der Wirtschaft sonst noch so tut. Immer wenn wir für eine gewisse Zeit, nicht gezwungen sind, etwas Bestimmtes zu machen, zu suchen und zu sagen, eröffnen sich neue Horizonte, die vielleicht zu etwas Neuem führen. Muße ist ein Zustand maximaler Ergebnisoffenheit. Sie ist „die Schwester der Freiheit“.

Eben diese Offenheit macht die Muße zur Quelle der Inspiration. Inspiration ist das, was wir nicht mit Vorsatz aus eigenen Kräften erreichen können. Wir können uns nicht selbst inspirieren. Wir können nur andere inspirieren und von anderen inspiriert werden. Für beides müssen wir offen sein. Und beides funktioniert nicht unter Zwang. „Lässt man körperliche Übungen zwangsweise vornehmen“, schreibt Platon „so hat der Körper denselben Gewinn, als wenn sie freiwillig sind. Aber in der Seele haftet keine erzwungene Lehre. Also lehre Deine Kinder die Wissenschaften nicht mit Gewalt, sondern wie im Spiel.“

Auszug aus dem Buch ANSTIFTUNGEN ZUM GUTEN LEBEN von Abdullah Sinirlioglu und Karen Plättner: https://www.bewango-shop.de/

Stichwörter: , , , ,